(Audio-)Industrie 4.0
Aussichten und Konsequenzen
Die in seinem Roman „1984“ von George Orwell beschriebene „Musik-Maschine“, welche sogenannte Gassenhauer am „Fließband“ auswirft, ist an sich schon vorhanden. In dem Buch war das sicher alles noch sehr fiktiv, aber präzise gedacht und in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen treffend beschrieben.
Sind wir soweit? Können Maschinen so etwas?
Da es uns hier um den Teilbereich „Musik – Aufnahme und Wiedergabe“ geht, ist ein Ausflug in die nähere Vergangenheit unumgänglich. Nähere Vergangenheit schon alleine deshalb, weil es weder professionelle Aufzeichnung noch Bearbeitung und Wiedergabe wesentlich länger als 50 Jahre gibt.
Beginnen wir mit der Studiotechnik:
- Bis etwa 1965 wurden Titel in großen Studios live eingespielt. Eine Nachbearbeitung, außer Schnitt, war kaum möglich. Bei der Aufnahme kamen einfache Mischer, Mikrofonverstärker, Signalprozessoren, wie z.B. Röhrenkompressoren oder Klangregler, zum Einsatz.
- Ab Ende der 60er erschienen Mehrspurmaschinen in Halb- und 1-Zoll-Ausführung. Einzelspuraufnahmen wurden möglich. Der Einsatz ganzer Orchester für eine Aufnahme nahm ab. Einfache Mischpulte mit Summier- und Gruppenfunktion und der Möglichkeit Effekte „einzuschleifen“ standen von einigen wenigen Herstellern zur Verfügung.
- Ab Anfang der 70er erschienen neben den 8-Spur Bandmaschinen nun auch 16- und 24-Spur Maschinen, inkl. Störgeräuschminderungssystemen wie Dolby, dbx und Telcom C4. Die Zahl der Effektgeräte umfasste nun auch Folienhallgeräte (statt des sogenannten „Hallraums“), Bandechos, Equalizer, Kompressoren, Noise Gates. Die Mischpulte wurden größer, boten Insert- Gruppen-, Summenfunktionen, einfache Entzerrer (Glockenfilter, Hoch-Tiefpass, Shelving – zu Deutsch „Kuhschwanz“) zur Klangbearbeitung. Nachdem die Mischpulte im engeren Sinne nur zur „Mischung“ gebaut wurden, eröffnete sich die Möglichkeit, zahlreiche Tonbearbeitungsgeräte zur Nachbearbeitung zu verwenden.
- Ab etwa 1975/76 erscheinen die ersten digitalen Hallprozessoren der Firma EMT und Lexikon, die sukzessive den Einsatz großer Hallplatten bzw. -folien überflüssig machen. Erste „psychoakustische“ Effekte, wie der APHEX Exciter, feierten große Erfolge. Die mittlerweile hohe Anzahl an analogen Geräten und Bandspuren führen zur Entstehung zahlreicher Hersteller, die alle um ein Plätzchen in den Tonstudios buhlten.
- Ab etwa 1980 standen die ersten digitalen Bandmaschinen zur Verfügung. Es folgte eine rasante Entwicklung unterschiedlichster, zum größten Teil noch analoger, Signalprozessoren, digitaler Hallgeräte, Effektgeräte, etc. Die Mischpulte wurden größer, zum Teil mit ersten Automationen, die dem Toningenieur helfen sollten, die immer größer werdende Zahl an Spuren und Effekten in den Griff zu bekommen.
- Zur gleichen Zeit beginnt das sogenannte Homerecording in Mode zu kommen. Die zu Anfang relativ einfach gestrickten und von Profis belächelten Geräte werden schnell besser und erfreuen sich bei einer Vielzahl von Musikern großer Beliebtheit. Plötzlich wird es möglich, Ideen, aber auch Proben und Konzepte aufzunehmen und anzuhören. Mit der steigenden Qualität beginnen nun Kunden der professionell ausgestatteten Studios abzuwandern und ihre Demo-Aufnahmen selbst zu machen. Diese Entwicklung wird in den folgenden Jahren zur Schließung zahlreicher Studios führen, die sich auch durch „einfache“ Aufnahmen finanzierten. Zudem boten nun „Homerecorder“ ihre Dienstleistung zu niedrigen Preisen an, was zu einem Preisverfall der Studiomieten führte. Gegen Ende der 80er lohnt sich professionelles Arbeiten kaum noch.
- Ab Ende der 80er erscheinen die ersten Festplattenrekorder. Das Ende der Bandmaschine per se (also analog und digital) rückt näher. Die ersten digitalen Mischpulte mit vollständiger Automatisierung und digitaler Anbindung an die HD-Rekorder läuten ein neues Zeitalter ein. Kopieren ist nun ohne Verluste möglich, Signale werden berechnet und nicht mehr im analogen Sinn „bearbeitet“. Die digitalen Mischpulte erfordern nun auch die Entwicklung digitaler Effekte, damit diese Ebene nicht verlassen werden muss. Nachteil der frühen Digitaltechnik: Die Wandler haben gerade einmal 16 oder 18 Bit – Tonqualität sieht anders aus. Jede halbwegs ordentlich gebaute analoge Kombination ist daher immer noch überlegen
- Die ersten Jahre der 90er: Die Kaskadierung verfügbarer Wandler erlaubt die Entwicklung von diskret (mit hohem Schaltungsaufwand) aufgebauten 22 und 24 Bit Wandlern. Die Qualität steigt enorm und die DSPs werden immer leistungsfähiger. Das ermöglicht die Entwicklung komplexer Prozessoren, wie z.B. FIR-Filter.
- Die späten 90er bringen immer leistungsfähigere und kostengünstigere Mischpulte mit einer Vielzahl integrierter Effekte und Bearbeitungsmöglichkeiten. HD-Rekorder jeglicher Größe und mit hoher digitaler Auflösung (24-Bit, 48-192 kHz Samplefrequenz) ersetzen nun Bandmaschinen praktisch überall.
- Die Kompositionsprogramme/Sequenzer (Cubase etc.) werden immer leistungsfähiger und bieten mittlerweile auch Aufzeichnung und Bearbeitung von Tonsignalen auf Computer-Festplatten an. Die Bearbeitung erfolgt mittels Computer – die Arbeitsweise wird revolutioniert und ändert sich teilweise grundlegend!
- 2000 bis heute: Mischpulte verlieren ihre Bedeutung und werden zu Fernbedieneinheiten der Musikprogramme in Computern. Signal Ein- und Ausgänge, zusätzliche DSP, Formatwandler werden als Einschubkarten für den Rechner angeboten. Die Programme sind nicht nur in der Lage, Sample-Bibliotheken abzuspielen, sondern Instrumente und Effekte zu bearbeiten, zu mischen und als fertige Musikdatei auszugeben.
Die beschriebene Entwicklung ist sicher lückenhaft und unvollständig. Aber das ist hier nicht der Punkt. Die immer weiter fortschreitende Integration, die Inklusion von Sample-Bibliotheken und die Leistungsfähigkeit der verfügbaren Rechner erlauben den Verzicht auf Musiker, Spezialräume, externe Geräte und schrumpfen ein Studio auf die Größe eines Rechners mit Bildschirm und angeschlossener Fernbedienung.
Doch das ist noch nicht alles: Vorgefertigte, vollautomatisierte und komplexe Prozesse, deren Beherrschung normalerweise einer fundierten Ausbildung bedürfen, stehen nun praktisch jedem zur Verfügung, der Willens ist, einen relativ unerheblichen Betrag dafür aufzubringen. Mit anderen Worten, was vor noch nicht langer Zeit sehr aufwendig, kosten- und personalintensiv produziert wurde, kann mit etwas Geschick billig erstellt werden. Die Arbeitsplätze von Tontechnikern, Tonmeistern, Studiomusikern (bis hin zu Studio-Orchestern) entfallen. Mit ihnen aber auch das Know-how, welches den neuen Gerätschaften zu Grund liegt.
4.0 – in der Studiotechnik ist das schon Alltag. „Kreative“ Programme verfolgen gemeinsam und optimiert ein Ziel, alles unter der Regie eines mehr oder weniger ahnungslosen und vom notwendigen Grundwissen unbeleckten Anwenders. Die weiter oben gestellte Frage, ob wir soweit sind und Maschinen das alles können, lässt sich mit einem eindeutigen „Ja“ beantworten. Und wenn sie es jetzt auch noch nicht in allen Bereichen vollständig können, dann wird es für die fehlenden Teilbereiche nicht mehr lange dauern!